IM TUNNEL

Es ist 8:21 Uhr, Sonntagmorgen, ich stehe in einer Menschenmenge. Meine Laufuhr zeigt einen Ruhepuls von 83 Schlägen pro Minute an. Das ist viel im Vergleich zu meinen 50 Schlägen die ich sonst habe wenn ich still irgendwo stehe und nichts tue. Ich bin wohl etwas aufgeregt. Aus den Lautsprechern die man hier extra aufgestellt hat dröhnt Musik, die ich nicht mag. Ich krame meine Kopfhörer aus der Hosentasche. In den letzten Wochen und Monaten hat sich ein Lied in meinem Kopf gebrannt, das ich immer wieder hörte während der vielen Laufkilometer die ich in den letzten drei Monate absolviert habe. Ich drehe mich um und sage zu meinen Begleiterinnen „Ich muss mich jetzt einlaufen!“. Meine Kopfhörer springen an und ich höre den Rhythmus der mir so vertraut ist.

WILD BOYS
WILD BOYS
WILD BOYS

Ich laufe die ersten Schritte des Tages. Weg von der Startlinie. In die andere Richtung. Mir gehen meine Haben-Seite durch den Kopf, die ich mir erarbeitet habe. In meinen Beinen stecken 987 Kilometer. Das heißt ich werde heute im Laufe dieses Vormittags die Marke von Eintausend überschreiten. Das gibt mir Selbstvertrauen. Viele Einheiten waren schnell. Einige an meiner Schwelle. Ich bin zwei mal weiter als zur Marathonmarke gelaufen und das nicht sonderlich langsam. Es ist Zeit an den Start zu gehen. Zwei Umarmungen und die Kopfhörer wieder in der Hosentasche verschwinden lassen. Der Song war noch nicht zu Ende. Wenn ich es brauche kann ich einfach nur auf den Knopfdrücken und wieder einsteigen. Mir mein Gefühl wieder holen.

THE WILD BOYS ARE CALLING

ON THEIR WAY BACK FROM THE FIRE

Der Puls ist noch weiter angestiegen. Die Menschen drängen in Richtung des Startbogens, doch halten Abstand zur Startlinie. Außer den Profis tritt keiner weiter nach vorne. 1 Minuten bis zu Start. Ich trete nach vorne. Meinen Zustand könnte man als austrainiert bezeichnen. Würde ich das Rennen konservativ angehen wäre der Finish sicher.  Ich reihe mich direkt hinter den Profis ein. Gertenschlanke Männer und Frauen in sehr knappen Klamotten. Kein Gramm Fett am Körper. Ich schaue sie mir aus der Nähe an. Ich stehe in den vorderen 10 Prozent des Starterfelds. Es manifestiert sich der Entschluss nicht konservativ zu laufen. Der Startschuss fällt. Ich starte meine Uhr. Ich bin im Tunnel.

IN AUGUST MOON´S SURRENDER TO

A DUST CLOUD ON THE RISE

WILD BOYS FALLEN FAR FROM GLORY

Die ersten Kilometer vergehen so schnell. Ich bin zu schnell. Ich laufe ein Tempo das sehr sicher zu einem Ausfall führen wird. Ich laufe im Tempo des Erstplatzierten mit. Bei einem Blick auf meine Uhr sagt diese, ich würde für das Zurücklegen eines Kilometers aktuell 3 Minuten und 42 Sekunden brauchen. Das ist zu schnell. Ich kann mich nicht bremsen. Mein Puls ist inzwischen dort wo er beim Laufen sein sollte, aber nicht so hoch wie ich es erwartet habe. Nach 3 Kilometern beginnt die erste von zwei großen Steigungen durch einen Wald. Das weiß ich. Ich beschließe mich von ihr bremsen zu lassen. Es ist jetzt schon warm. Ich schwitze und versuche den Flüssigkeitshaushalt jetzt schon unter Kontrolle zu halten und beginne zu trinken. Ich knalle in den ersten Anstieg über knapp 200 vertikale Meter. Zunächst bremst es meinen Schritt kaum. Immer noch nur knapp über vier Minuten auf den Kilometer. Dann wird es steiler und es trifft mich wie eine Wand ins Gesicht. Ich lasse mich bremsen. Stark sogar. Es folgt ein Aufstieg, der mich körperlich und psychisch fordert. Nein, ich erklimme keinen Berg. Das ist ein Hügel. Aber in meinem Kopf ist es ein Gebirge. Ich beginne zu verhandeln welche Zeit ich für mich als Zielzeit akzeptieren könnte und was eine Enttäuschung wäre. Ich werde überholt. Ich verliere den Anschluss an die Führungsgruppe. Damit war zu rechnen. Es ärgert mich mehr als es sollte. Der Anstieg ist beendet und kippt in einen langen Downhill. Ich presse meine Beine in den Asphalt. Ich werde schneller spüre wieder Luftzug im Gesicht. Im Kopf rechne ich was für einen Schnitt ich laufen müsste um die verlorene Zeit am Berg wieder auszugleichen und Laufe 10 Sekunden schneller als notwendig. Ich beschließe das es jetzt nach knapp 10 Kilometern Zeit wird mich von der Musik tragen zu lassen. Die Kopfhörer geholt. In die Ohren gesteckt.

RECKLESS AND SO HUNGERED

ON THE RAZORS EDGE YOU TRAIL

BECAUSE THERE´S MURDER BY THE ROADSIDE

IN A SORE AFRAID NEW WORLD

Plötzlich zwei lachende Gesichter die ich jetzt noch gar nicht erwartet habe, die Rufen, die Jubeln, die sich freuen. Mein Herz macht einen Sprung. Ich fliege förmlich um die letzte Kurve des Abstiegs. Es folgt eine lange flache Passage. Ein anderer Läufer mit dem ich Tempo halte läuft neben mir. Ich nehme seine Schrittfrequenz an. Versinke in meiner Musik. ich bestehe kurze Zeit nur noch aus Atmen und Schritten. Es ziehen mehrere Dörfer an mir vorbei. Menschen die jubeln. Feuerwehrleute die die Straße für die Läufer sperren. Ich laufe weiterhin 10 Sekunden schneller auf den Kilometer als ich müsste um in meiner Wunschzeit ins Ziel zu kommen. Doch ich weiß auch, dass noch zwei Anstiege vor mir liegen, die zwar kürzer, aber dafür steiler sind. Ich muss mir einen Puffer erarbeiten, denn ich werde gehen. Das Tal ist durchquert und der Anstieg kommt. Er zieht sich vorbei an einem Kloster, dass ich früher als Bauleiter betreut habe. Viele der alten Sandsteinquader sind meinem Freunde. Gute Bekannte aus einer alten Zeit. Ich habe inzwischen um die 1500 Kalorien verbrannt und noch keine zugeführt. Ich verbrenne Fett, aber das geht nur wenn mein Puls niedriger wird. Der befindet sich am oberen Ende der Skala. Mir geht es schlecht. Später wird mir dieser Eindruck bestätigt. Ich sah wohl auch so aus. Ich schraube mich eisern den Hügel hoch. Ich muss jetzt gehen sonst springt mir das Herz aus der Brust. Ich werde wieder überholt. Ich lasse für einen Moment alle Ambitionen ziehen. Das wird nix mehr.

THE TRIED TO BREAK US

LOOKS LIKE THEY´LL TRY AGAIN

Ich entscheide mich nun Kräfte zu sammeln. Das Gelände der nächsten fünf Kilometer ist flach. Die Aussicht ist großartig. Ich sammle nicht nur Energie. Auch meine Zuversicht kehrt zurück. Ich kann mein Ziel immer noch erreichen. Ich muss noch einen Anstieg meistern und dann liegen nur noch 20 Kilometer vor mir, die größtenteils flach sind oder bergab führen. Ich esse während ich den letzten Anstieg hinaus marschiere einen halben Riegel. Er schmeckt nicht und ich muss mich dazu zwingen zu schlucken. Kurz muss ich würgen. Ich kämpfe es nieder. Ich drehe die Runde über das Hochplateau. Ein sagenhafter Tag. Es wäre eine Verschwendung ihn nicht zu nutzen um etwas monomentales zu schaffen. Ich donnere in den Abstieg. Ich stürze zurück in meinen Tunnel. Ich laufe nur noch. Ich weiß nicht mehr wie schnell. Es ist egal. Ich gebe alles was ich habe.

WILD BOYS NEVER LOSE IT

WILD BOYS NEVER CHOOSE THIS WAY

WILD BOYS NEVER CLOSE YOUR EYES

WILD BOYS ALWAYS SHINE

Ich bin seit dem zweiten Anstieg immer in der nähe eine Gruppe gelaufen. Ich habe von der Dynamik profitiert. Ich habe mich erholt und nun konnte ich alles entfesseln. Ich breche aus der Gruppe heraus und setze mich ab. Kurz darauf erscheint vor mir eine Läuferin die von einem Mountainbike begleitet wird. Es ist die erste Frau und das Begleitrad der Veranstaltung. Ich bin schneller. Ich ziehe vorbei. Ich donnere mit leichten Schritten ins Tal. Ich trinke dabei die letzten Schlucke Wasser die ich noch dabei habe. Mein Magen verdaut schon länger nichts mehr. Ich biege um eine Kurve. Dort stehen wieder F. und meine Mama. Wie verabredet meine letzter Schub für die letzten 10 Kilometer. Ein Lächeln von einem geliebten Menschen wirkt für mich mehr als Doping. Ich lächle ihnen zu, weil ich will, dass sie wissen, dass es mir besser geht. Das ich das nach Hause bringe. Als am Straßenrand ein Schild die 32 Kilometer-Marke anzeigt überschlage ich im Kopf wie lange ich noch brauche wenn ich in dem Tempo weiterlaufe. Nun muss ich wirklich lächeln. Das wird weh tun, doch es wird sich lohnen. 5 Kilometer vor dem Ziel überholt mich die erste Frau wieder. Ich gönne es ihr. Ich bin mir sicher dass sie das für sich so geplant hatte. Mich überholt jedoch in ihrem Schatten auch ein weiterer Läufer. Er hat einen lustigen Schnauzer. Später werde ich erfahren, dass er Peter heißt und wir dieses Jahr noch einen weiteren Lauf gemeinsam bestreiten werden. Peter überholt mich, bleibt aber dann knapp vor mir. Man hört nun die Samba-Gruppe die am Ziel spielt. Noch drei Kilometer. 14 Minuten bei meinem aktuellen Tempo.

YOU GOT SIRENS FOR A WELCOME

THERE´S BLOODSTAIN FOR YOUR PAIN

AND YOUR TELEPHONE BEEN RINGING WHILE

YOU´RE DANCING IN THE RAIN

Peter ist immer noch vor mir. Ich bin müde. Meine Kraft lässt nach. Ich werde ihn nicht mehr überholen können. Im Kopf gönne ich ihm den Zieleinlauf. Peter hat offensichtlich die selben Gedanken. Als wir um die letzte Kurve biegen wird er plötzlich langsamer. Ich laufe fast in ihn hinein. Ich ziehe vorbei. Wir schauen uns lächelnd in die Augen. Wir wissen beide das wir heute gekämpft haben. Ich laufe durch den Kurpark. Um den runden Brunnen. Menschen schauen verdutzt. Ich glaube ich gebe ein lustiges Bild ab, wie ich völlig abgekämpft mit meinem langen Bart da renne. Überglücklich weil ich jetzt weiß, dass ich mich selbst übertroffen habe. Mich besiegt hab. Schmerzen und Nervosität überlaufen habe. Das ich heute einen unfassbaren Sieg einfahre. Ich denke an meine Schulzeit, als ich der kleine übergewichtige Junge war, der beim Sport immer versagt hat. Ich denke an meinen alten, ruppigen Sportlehrer, der mir sogar eine Fünf für den Cooper-Test eintragen musste. Ich wünschte er könnte mich jetzt sehen.

WILD BOYS WONDER WHERE IS GLORY

WHERE IS ALL YOU ANGELS

NOW THE FIGUREHEADS HAVE FELL

AND LOVERS WAR WITH ARROWS OVER

SECRETS THEY COULD TELL

Meine Uhr zeigt 42 Kilometer. Ich laufe durch eine Unterführung. Ich sehe den Zielbogen. Ich höre einen sehr laute mit gut vertraute Stimme. „Verdammt noch mal, zieh! Da geht noch was!!!“, sagt sie mir. Und ich mache das alles. Ich laufe so schnell es meine Beine hergeben. Biege auf die Aschebahn die die letzten 200 Meter mein Weg sein werden und mein Puls springt heute das erste Mal über 200 Schläge pro Minute. Ich laufe über die Ziellinie und die Uhr bleibt bei 03:25:56 stehen.

WILD BOYS ALWAYS SHINE!

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EPILOG:

Als ich später im Kreise meiner Familie sitze und gierig Käsespätzle esse erfahre ich, dass ich in meiner Altersklasse den 3. Platz erreicht habe. Alle am Tisch klatschen. Ich bin komplett verwirrt. Was für ein großartiger Tag!